Der Wecker klingelte uns zum Frühstück raus, die Nacht hatten wir echt schlecht geschlafen. Es war zu laut, zu warm, zu hell gewesen. Die Stiche juckten. Aber für die heutige Tour waren wir extra nochmal zurückgekommen. Dio war leider verhindert, aber wir würden Kristina wiedertreffen, da sie sich auch angemeldet hatte. Als wir sie kurz vor 9 Uhr an der Metro trafen, stiegen wir in die falsche Richtung ein, bemerkten den Fauxpas-Pas lachend ein paar Haltestellen weiter. Und das kannten wir ja nun schon: wir stiegen wieder aus, stiegen über die Treppe wieder um und fuhren nun nördlich bis nach "Caribe". Dort sahen wir schon das rote Real City Tour Shirt von Pablo. Der Gründer der lokalen Guide-Tours würde mit uns persönlich losziehen. Wir waren zu siebt, Schweizer, Dänemark, Ungarn/ Tunesien und wir. Heroina, eine 69-Jährige aus dem Viertel, die hier seit 63 Jahren lebte, begleitete uns zusätzlich wobei Pablo immer nochmal übersetzte. Er bezeichnete sie als "volcona of knowledge". Diese Tour hatte auch einen Festpreis, weil sie damit soziale Projekte im Viertel finanzieren und fand nur 3x die Woche mit max. 10 Personen statt, damit es nicht so ein "Disneyland-Zirkus" wie Comuna 13 wird.
Genau deshalb waren wir nochmal zurückgekehrt. Eine Comuna besteht aus mehreren Vierteln = barrios, von denen es in Medellin 249 gebe. Wir bekamen erstmal hier an der Haltestelle eine Einführung, er hatte ausreichend laminiertes Bildmaterial in einem Ordner dabei und erzählte so fesselnd, dass ich mir ihn als Lehrer wünschte. Pablos Frau war Österreicherin, er sprach ein paar Worte Deutsch und kannte Dresden! Er hatte in Budapest gearbeitet und war von Prag nach Berlin über Dresden - seine erste deutsche Stadt - gereist und hatte super Erfahrungen in der Neustadt mit Couchsurfing gemacht. Wie cool. Aber nun zurück zur Tour.
Hier war es viel authentischer und wir sollten nicht ständig die Kamera hochhalten und wenn möglich Essen/ Trinken vor Ort kaufen, weshalb wir erstmal einen Becher Ananas teilten. Immer wieder setzten wir uns im Halbkreis an verschiedenen Orten nieder um Heroinas Erinnerungen und Pablos Ergänzungen zum Schul- und Gesundheitssystem zu lauschen. Auch Heroina war mit ihrer Familie vom Land geflohen um politischen Konflikten zu entkommen. Sie waren hier auf dem auf Müll erbauten, am Rande von Medellin liegenden Hügel, die achte Familie gewesen. Der Fluss schwemmte immer wieder Müll an und die Stadt lud mit Lkws Müll ab, bis sie merkten, dass daraus eine Siedlung entstand. Die damalige Lagune gibt es mittlerweile längst nicht mehr. Stattdessen aber einen Fußballplatz vor einer Schule. Diese sind mit Stacheldraht umringt, damit keiner die Computerzimmer plündert wie es oft auf dem Land der Fall ist. Heroina erzählte ruhig und bedacht von der früheren Zeit und zeigte uns alte Münzen. Sie beschrieb wie viel Müll sie jeder gesammelt und zu Recycling-Stationen gebracht hatten um welchen Wert zu verdienen. Besonders stolz war sie auf die 25 Cent. Eines ihrer Geschwister war verhungert, mit 25 Cent konnte sie eine Milch kaufen, was die anderen Geschwister "rettete". Außerdem freute es sie, dass sie mit je 1 Peso einen Backstein hatte kaufen können und so die ersten mit einem aus Stein erbauten Haus gewesen waren. Die ganze Familie half mit. Die Community hielt noch heute zusammen und unterstützte sich. 90% waren nach einem Angebot der Regierung in bereitgestellte Appartments umgezogen.
Wir saßen neben dem Kopf der Resistenz, auch ein Don Jaime, der stolz war geblieben zu sein. Er grüßte mal kurz, zog sich aber bald in sein Haus - das erste hier - zurück. Leider hatte auch hier Covid viel zerstört. Zuvor hatte es eine große Fläche mit Nutzpflanzen, Salat, Gemüse gegeben und eine Gruppe Frauen, die sich offiziell darum kümmerten. Dann hatten Gangs Parzellen verkauft und nun war alles zugebaut und würde nicht mehr grün werden. Wir lernten den Ausdruck: "there is a bigger fish to fry". Die Regierung hatte während dieser schwierigen Zeit andere Sorgen und die Sicherheitskräfte anderswo gebündelt. Aber mittlerweile gab es ein Gesundheitszentrums, offizielle Schulen und ein Gemeindehaus, la casa de todos (das Haus von allen) mit Workshops, großem Auditorium für Theater und Co. und dies war die Veränderung, um die es in der Tour ging. Die Kolumbianer sind stolz darauf, dass sich mittlerweile Stigmata ändern, Touristen kommen und Medellin nicht mehr die gefährlichste Stadt der Welt ist, wie in den 80ern. Dies ist mittlerweile eine Stadt in Mexiko.
So wie hier leben 60% der Kolumbianer
46% werden nicht besteuert, weil sie im Mindestlohnsektor arbeiten
Eigentlich alle sind unfreiwillig geflüchtet und hierhergeraten
Gesund ist es nicht auf Müll- und Erdschichten zu leben
Keiner besitzt offiziell Eigentum, damit die Regierung nicht für Gesundheitsschäden haften muss
Es gibt sechs Klassen in Kolumbien, je nach Viertel, die bestimmen, wie viel man für Museen etc. Zahlt, die Uni ist seit diesen Jahres kostenfrei, aber die Tests bestehen eben oft die besser Betuchten mit besserer Ausbildung
Nur ein Viertel ist die höchste Klasse 6 hier in Medellin = El Poblado, wo die Clubs und Restaurants und Touristen sind
1991 - mein Geburtsjahr ;) - brachte mit einer neuen Verfassung eine entscheidende Veränderung = Verbesserung, die den Menschen mehr Rechte gaben
Ein Beispiel für die Andersartigkeit der Kultur sahen wir auch: zwei auf dem Motorrad vorbeifahrende Waschmaschinen. Für nicht ganz 2€ konnte man sie inkl. Lieferung leihen. Das war ja mal was! Und das deutsche Bauamt würde durchdrehen. Die Häuser werden hier einfach nach oben hin immer breiter, natürlich ohne Genehmigung, dafür mit zusätzlichen Stützträgern :)
Ein deutsch-kolumbianischer Verein hatte auch drei Beete gepflanzt, besser als nichts, aber mickrig im Vergleich zu den vorherigen Großbeeten. Wir probierten Empanadas und kleine Bällchen und an einem unscheinbaren Haus bekamen wir alle selbstgemachtes Bechereis nach einem Klopfen an der Haustür- für Eric und mich natürlich Maracuja.
Heroina sang ein Lied der Resistanz vor ihrem alten Haus, was nur noch die ältere Generation kennt. Graffitis werden bekannten Persönlichkeiten der Comuna gewidmet, u.a. mit den Tour-Geldern. Natürlich rundeten wir auf. Obwohl oder gerade weil wir vorher eine Art Steuer gespart hatten, weil wir und Kristina den Einreisestempel im Reisepass gezeigt hatten. Wir entgingen nur knapp dem Regen und schauten uns noch eine Ausstellung mit alten schwarz-weiß Fotos an.
Dann wollten wir Dios Empfehlung folgen und ein lokales Gericht probieren, "bandeja paisa", Pablo brachte uns zu einem kleinen Restaurant. Der Däne schloss sich uns an und Eric lud Heroina ein mit uns zu essen - wir übernahmen auch ihr Essen, der Däne ihr Getränk. Kristina gab die Vorspeise aus. Gott sei Dank teilten Eric und ich uns das Gericht. Es war viel zu viel, dem Dänen ging es später auch nicht sehr gut. Auch Kristina musste die Dinnerverabredung absagen...
Der Däne war noch grün hinter den Reiseohren und an der Metro völlig überfordert und hatte Angst ausgeraubt zu werden. Herrgott, wir folgten einfach Pablos Rat und grüßten alle freundlich und schon grüßten alle zurück. Wir entschlossen uns ihn zum Einkaufspalast, wo wir letztens das Avocado-Eis gegessen hatten, zu begleiten, wir brauchten eh noch ein bisschen Bewegung, was er dankend annahm. Letztens hatten wir keine Zeit gehabt die oberen drei Etagen zu besuchen. Die unteren waren Schuhen und Klamotten (meist Fälschungen, kann man erfragen) vorbehalten, oben waren lauter Bilder in kleinen Galerien ausgestellt. Nur wenig traf unseren Geschmack.
Als wir fertig waren, suchten wir Georg und er versicherte uns zurechtzukommen und sich ein Uber zu rufen (haha keine Metro). Wir verabschiedeten uns und kauften auf dem Weg Mangostin. Hach, what a dream. Dann luden wir die Metro-Karte auf und fuhren zurück.
Die Gegenrichtung war voller Menschenmassen, wir kamen kaum aus der Metro raus! Sie standen ewig Schlange, denn heute Abend spielte Kolumbien gegen Brasilien und wurde vielerorts mit Public Viewing gefeiert.
Ich hatte Kopfweh von der Hitze, den vielen Eindrücken und Infos und brauchte mal einen Moment. Deshalb stiefelten wir erst später zu Halong, einem vietnamesischen Restaurant die Straße runter. Es war wunderhübsch und tat gut mal was anderes, was leichteres zu essen, zumal wir ja sowieso die asiatische Küche liebten. Über Kristina hatten wir schon erfahren, dass es hier als Unglück bringend angesehen wird, wenn man den Rucksack auf den Boden stelle, "dann fliege das Geld davon" - ja merken wir :D Haben wir wohl zu oft gemacht ;)
Aber wir mussten dann doch schmunzeln als man uns ein Extra Höckerchen für unsere zwei, zur Sicherheit mitgebrachten Regenschirme hinstellte. Wir wählten das gleiche + erfrischende Limettenlimonade und teilen ein Dessert. Sie fragen immer ob sie ein Trinkgeld berechnen dürfen, manchmal setzen sie es auch allein auf die Rechnung.
Dann schlenderten wir in der Abendkühle zurück, ich fraß mich noch durch mein Buch.
Yorumlar